08 Dezember, 2007

Streß und Sucht durch Technikterror

Kürzlich erklärte die WHO Streß zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts – 70 Prozent aller Krankheiten entstehen durch seelischen Druck. Während die drei größten Leiden der Menschen 1990 noch Lungenentzündung, Durchfall und Kindstod waren, werden es 2020 Herzinfarkt, Depression, Angststörung sein. Jeder fünfte Deutsche leidet unter Streß, und jeder zehnte Fehltag geht auf das Konto von Streß. Im Zeitraum von 1997 bis 2004 haben die seelischen Leiden am Arbeitsplatz um 70 Prozent zugenommen.[1]
Streß kann durchaus positiv sein, wenn eine Herausforderung zwar schwierig aber noch zu meistern ist. Negativer Streß wird jedoch verursacht, wenn wir uns permanent überlastet und überfordert fühlen. Die Folgen sind erlernte Hilflosigkeit und schließlich Depression.[2]
Die Gründe für den seelischen Druck sind vielfältig. Überforderung und massiver Druck am Arbeitsplatz nehmen weiter zu. Der Alltag gestaltet sich bei abnehmenden sozialen Kontakten und körperlicher Unterforderung hektisch. Reizüberflutung und Technikterror tun ihr übriges: Elektronische Helfer, wie BlackBerry, Handy und WLAN-Laptops sorgen dafür, dass wir ständig und überall erreichbar sind und kaum noch abschalten können. Sogar nach Mitternacht sind wir, in dringenden Fällen noch zu sprechen. Das verändert laut Miriam Meckel nicht nur „unser Informations- und Kommunikationsverhalten, es verändert auch unsere Arbeit und letztlich unser Leben.“ [3]
Die Grenzen zwischen privat und beruflich verschwimmen. Moderne Wissensarbeiter können von überall her und jederzeit arbeiten und haben Mühe, sich auch mal zu erholen und abzuschalten. Die neuen Medien werden daher in der Fachsprache längst „arbeitsausweitende Technologien“ (Work Extension Technologies)[4]  genannt.
Eine umfassende kanadische Studie mit mehr als 31.000 Befragten kam zu einem scheinbar widersprüchlichen Schluß. 70 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre Arbeitsbelastung und der dadurch empfundene Streß durch mobile Kommunikationstechnologien gestiegen seien. Gleichzeitig waren 68 Prozent der Teilnehmer der Ansicht, ihre Arbeit sei durch den Einsatz der selben Technologien effektiver geworden.[5]
Sicherlich erleichtern digitale Medien unsere Arbeit, wenn wir nicht persönlich zu einem Kunden fahren müssen und in einer Videokonferenz auch mit Übersee verhandeln können. Dennoch führt schnellere und einfache Kommunikation auch zu einer größeren Menge an Kommunikation. Diese Zunahme an Kommunikation bringt zwar einen größeren Aktionismus, nicht aber zwangsläufig mehr Produktivität. Die Folge ist:Wir haben „jede Menge Action ohne Satisfaction.“ [6]

Besonders häufig fühlen sich Besitzer von sogenannten Smartphones, allen voran dem BlackBerry, gestreßt. Dieses intelligente Telefon, das außerdem noch Terminkalender, Adressbuch, Notizblock und Taschenrechner in einem ist, zeigt E-Mails per Push-Technologie [7] direkt auf dem Bildschirm an. Durch Blinken macht es auf ankommende Mails aufmerksam und verkündet schon mal morgens acht Uhr per Weckruf, dass sein Besitzer heute Urlaub hat und deshalb weiter schlafen kann.[8]
BlackBerries üben eine erstaunliche Faszination aus und bergen nicht zuletzt dadurch eine große Suchtgefahr:

„Wer einmal das berauschende Gefühl genossen hat, überall und zu jeder Zeit, Mails um die Welt jagen zu können, ohne erst ein Notebook aufklappen und eine Internet-Verbindung herstellen zu müssen, kann kaum noch darauf verzichten.“ [9]
Der charmante Verehrer verläßt den Restauranttisch unter dem Vorwand, zur Toilette zu müssen, um heimlich E-Mails auf seinem BlackBerry zu beantworten. Die Teilnehmer einer Aufsichtsratssitzung hantieren unter dem Tisch mit ihren BlackBerries und verpassen die Verkündung der Jahresbilanz. Der Streßforscher Bruce McEwen nennt dieses Verhalten Obsessive Compulsive Disorder – eine Zwangsstörung. McEwen: „Man braucht viel Selbstkontrolle und Selbstbewußtsein, um mit diesen Geräten vernünftig umzugehen.“ [10]
Die Sucht nach dem Blackberry brachte dem schlauen Handy den Spitznamen CrackBerry ein. Auf YouTube kursieren längst Videos, die den CrackBerry-Addict vorführen oder eigens erfundene Produkte vorstellen. So gibt es beispielsweise den BlackBerry Helmet, der dem BlackBerry-Nutzer ermöglicht, nie mehr von seinem Gerät aufschauen zu müssen. Der robuste Helm schützt den Kopf seines Trägers und macht ihn schon von weitem sichtbar, damit andere Passanten ihm aus dem Weg gehen können. Der erfundene Werbespot endet mit dem Slogan: „Protect your skull, while you destroy your thumb!“ [11]

BlackBerry Helmet, Rick Mercer Report, CBC-Television

Damit spielen die Filmemacher auf den sogenannten BlackBerry-Daumen an, einer Sehnenscheidenentzündung vom Drücken der Minitasten. Wie auch Streßsymptome gehört diese zu den modernen Zivilisationskrankheiten. Auf vielen Konferenzen wird mittlerweile ein BlackBerry-Verbot verhängt, um zu gewährleisten, dass alle Teilnehmer mit ihren Köpfen und ihren Daumen bei der Sache sind.

[1] o.V., In: Wirtschaftswoche, 20.3.2007
[2] o.V., Bruce McEwen im Interview, In: Wirtschaftswoche, 3.4.2007
[3] Meckel, M. (2007)
[4] Meckel, M. (2007) zit. n. Towers, I., Duxbury, L., Higgins, C., Thomas, J. (2006)
[5] Meckel, M. (2007) zit. n. Higgins, C., Duxbury, L. (2002)
[6] o.V., In: Wirtschaftswoche, 20.3.2007
[7] Gegensatz: Pull-Technologie; Mails per Tastendruck abrufen
[8] wahre Anekdote meiner Kollegin M.K. am Fraunhofer Institut FIRST, 2007
[9] Koch, Chr., (2006) In: Die Zeit, 9. März 2006
[10] Interview mit Bruce McEwen, In: Wirtschafts­woche, 3.4.2007
[11] BlackBerry-Helmet: Rick Mercer Report CBC-Television