Infomanie
Einerseits beklagen wir eine ständig zunehmende Informations- und Kommunikationsflut, andererseits brauchen wir sie. Einen Großteil der Unterbrechungen, die uns bei unserer Arbeit ablenken und dazu führen, dass wir uns gehetzt und überfordert fühlen und schließlich länger an einer Aufgabe sitzen, verursachen wir selbst.
In einer Studie der University of London im Auftrag von Hewlett-Packard (2005) wurden 1.100 Erwachsene, darunter vor allem Männer, bezüglich ihrer Nutzung von E-Mail und SMS befragt. 62 Prozent von Ihnen erklärten, dass sie E-Mails und SMS ständig überprüfen und arbeitsbezogene Mitteilungen auch im Urlaub oder in der Freizeit beantworten.
In von mir geführten Interviews 2007 äußerten sich die Befragten ähnlich: „Wenn eine Mail da ist, mußt du dich kümmern“ (J.L.); „Meine Mails kommen mit einem „Pling“ an. Ich gucke dann auch sofort nach.“ (Y.B.); „Die Mails kommen ständig rein, und ich lese sie direkt. Meistens antworte ich auch gleich darauf, …“ (B.B.)
Bill Shackelford, „Spamtrap“, 2007
Dieser reaktive Umgang mit dem äußeren Reiz E-Mail bleibt nicht folgenlos:
Miriam Meckel, Professorin für Corporate Communication an der Universität St. Gallen:
„Gehen wir davon aus, dass ein Wissensarbeiter heutzutage 200 bis 300 E-Mails pro Tag erhält, so wird im normalen Berufsalltag nicht mehr die Arbeit durch die E-Mail, sondern das Mailen durch die Arbeit unterbrochen.“ [2]Viele können dem Aufforderungscharakter des roten Punkts im Dock oder des kleinen Brief-Icons in der Taskleiste, die eine neue Mail ankündigen, nicht widerstehen und denken nicht daran, das geräuschvolle „Pling“ abzustellen.
Der Grund für dieses Verhalten könnte im Pawlowschen Reflex [3] liegen.Wie ein Pawlowscher Hund folgen wir dem visuellen oder akustischen Reiz, der eine E-Mail ankündigt und uns signalisiert, dass wir sogleich mit Anerkennung und Wertschätzung belohnt werden. Wir sind in freudiger Erwartung auf die Nachricht, die da kommt, und das befriedigende Gefühl geliebt und gebraucht zu werden, erfüllt uns. Wenn es sich dann doch nur um eine Werbemail, einen Kettenbrief oder eine „fyi“-Mail [4] handelt, sind wir zwar enttäuscht, aber der Moment der Vorfreude, der uns auf dem kurzen Weg zum elektronischen Briefkasten begleitete, reichte aus, uns mal wieder selbst zu unterbrechen.
Ursache für dieses Phänomen ist nach Miriam Meckel ein Merkmal in der Natur des Menschen, das der irische Theologe und Aufklärungsphilosoph George Berkeley bereits vor 250 Jahren beschrieb: „Esse est percipi“ – Sein heißt wahrgenommen werden. Übertragen auf unsere elektronische Neuzeit hieße dieser menschliche Leitsatz: „Ich maile, also bin ich.“ [5] Dieser urzeitliche Wesenszug sitzt dabei dem Irrtum auf, dass Quantität und nicht Qualität den Wert unserer Kommunikation bestimmen. Nicht der Prozess der Kommunikation an sich, sondern Absender und Inhalt einer Nachricht sind maßgeblich für den Wert, den eine elektronische Mitteilung für uns hat.
Ein Beispiel: An meinem Geburtstag habe ich einige Glückwünsche per Mail erhalten, u.a. von meinem Vater, einer Freundin, aber auch von Tchibo und O2. Natürlich haben die E-Mails meines Vaters und meiner Freundin einen viel höheren Wert für mich als die automatisch versendeten Mails der Konzerne. Dennoch habe ich alle Mails mit gleicher Vorfreude geöffnet und – zugegeben – mein Schreiben an diesem Artikel unterbrochen.
Im Umgang mit Handy und Smartphone stellen sich vergleichbare Verhaltensweisen ein. Wir meinen rund um die Uhr erreichbar sein müssen, um ja keinen Anruf zu verpassen und uns vermeidlich wichtig und geliebt zu fühlen. Die wenigsten der von mir befragten InterviewpartnerInnen [6] schalten ihr Handy überhaupt aus. Sogar im Kino wird das Telefon eher auf stumm geschaltet, um „notfalls“ rangehen zu können.
Eine aktuelle Studie der Universität St. Gallen untersuchte die Nutzung von BlackBerries. Mehr als ein Drittel der befragten Studienteilnehmer gaben an, dass sie sich 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche genötigt fühlen, per Mobile-E-Mail[7] erreichbar zu sein. Der unartikulierte soziale Druck, ständig erreichbar zu sein, stieg bei Langzeitnutzern, die länger als eineinhalb Jahre ein BlackBerry gebrauchten sogar noch an.[8]
Ständig am Handy oder Computer zu hängen und den Informationsfluss zu beobachten, bleibt aber nicht folgenlos, denn es erfordert, eine permanente Aufmerksamkeitsleistung. In der Studie von Hewlett-Packard (2005), machten der Psychologe Glenn Wilson und sein Forscherteam eine bemerkenswerte Entdeckung. Sie ließen 1.100 Erwachsene Intelligenztests mittleren Schwierigkeitsgrades ablegen. Die erste Gruppe durfte die Aufgaben ungestört lösen, die zweite Gruppe wurde von E-Mails und Telefonanrufen unterbrochen. Einer Kontrollgruppe wurde Marihuana verabreicht. Die ungestörten Probanden schnitten um zehn Punkte besser ab, und selbst die Kiffer erzielten sechs Punkte mehr als Personen, auf die ständig Informationen einprasselten.[9]
Der Spiegel fragte daraufhin treffend: „Kann man sich blöd informieren?“ [10]Anscheinend kann man: Die Studienteilnehmer, die sich einem nicht abreissenden Informationsstrom ausgesetzt sahen und deren Aufmerksamkeit gewissermaßen in ständigen Bereitschaftszustand versetzt war, zeigten auffällige Symptome, wie Schläfrigkeit, Lethargie und Konzentrationsschwäche. Die Forscher gaben diesem psychischen Krankeitsbild einen Namen: Infomanie.[11]
[1] Rötzer, F., In: Telepolis, 22.4.2005
[2] Meckel, M. (2007)
[3] Theorie der Klassischen Konditionierung nach dem russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow
[4] fyi – engl. „For your Information“; dt: „Nur zur Info“
[5] Meckel, M. (2007)
[6] qualitative Interviews mit 12 TeilnehmerInnen zwischen 30 und 45 Jahren, 2007
[7] im Unterschied zur E-Mail ist die Mobile-E-Mail von unterwegs über ein Smartphone abrufbar
[8] Granat, J. (2007)
[9] Ramge, Th. 7/2007 und Wernecke, M. In: Financial Times Deutschland, 23. April 2007
[10] o.V., In: Spiegel Online, 23.4.2005
[11] Wainright, M. In: Guardian, 22.4.2005