10 Februar, 2008

"Virgin Thumb"

Hintergrund
Seit Erfindung des Smartphones, das Telefon, Terminkalender, Adressbuch, Notizblock und Taschenrechner in einem ist, sind wir ständig dabei, Nachrichten per SMS oder E-Mail um die Welt zu jagen. Der bekannteste Vertreter ist das BlackBerry. Dieses Multifunktionsgerät birgt ein großes Suchtpotential und brachte dem schlauen Handy den Spitznamen CrackBerry ein. [1] Wo wir gehen und stehen, schauen wir mal kurz nach, ob eine wichtige Nachricht eingetroffen ist oder doch nur ein Angebot, kostengünstig Valium übers Internet zu bestellen. Kaum ein Treffen mit Kollegen oder Freunden vergeht, wo wir nicht heimlich auf den Minitas­ten unseres Smartphones rumdrücken und nur mit halben Ohr bei unserem Gesprächspartner sind.
Unsere Daumen werden dabei so stark einseitig beansprucht, dass sie zu schmerzen be­ginnen. Eine Sehnenscheidenentzündung stellt sich ein. Der BlackBerry-Daumen gehört mittlerweile zu den modernen Zivilisationskrankheiten. Trotzdem können wir von unserem kleinen schwarzen Freund nicht lassen.

Idee
Um unsere Handy-Sucht zu kontrollieren, gibt es jetzt den Virgin Thumb. Dieser Daumenschuh aus weichem, weißen Leder verhindert das zwanghafte Navigieren [2] auf kleinen Tasten. Unsere Daumen können sich erholen, und wir können uns vom Blackberry entwöhnen.


Däumling im SM-Design; Die doppelte Daumenschraube mit verstellbarem Gurt; © Illustration Ivy Kunze


Referenz
Der Virgin Thumb soll in Form und Zweck an den Keuschheitsgürtel erinnern. Diese Vorrichtung, die verstärkt im 18. Jahrhundert aufkam, sollte das Masturbieren von Knaben verhindern. Zu dieser Zeit setzte eine beispiellose, von christlichen Motiven geprägte Anti-Onanie-Kampagne ein [3]. Trotz zunehmend aufgeklärten Ansichten wurde Masturbation als Krankheit verpönt und bezichtigt, Schwachsinn und körperlichen Verfall hervor zu rufen.
Antimasturbationsschriften, wie „Onania oder die erschreckliche Sünde der Selbstbefleckung, mit allen ihren entsetzlichen Folgen“ (1736) oder „Von der Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren“ (1776) [4] erschienen. Darin wurden Ärzte und Eltern angewiesen, Maßnahmen zu ergreifen, das „Leiden“ zu verhüten. Sinnreiche Vorrichtungen, insbesondere Bandagen und Keuschheitsgürtel sollten die Jugendlichen davor „schützten“, sich „selbst zu beflecken“.[5]
Der zwanghafte Gebrauch mobiler Endgeräte kommt einer digitalen Onanie gleich. Diese führt zwar genauso wenig wie die geschlechtliche Onanie zu Krankheit und Irrsinn, wohl aber zu fehlender Aufmerksamkeit und gestörter Konversation. Der Virgin Thumb hilft uns, für einen Augenblick im Mobilfunkverkehr keusch zu bleiben.

Referenz: Keuchheitsgürtel für Knaben


Realisierung
Der Virgin Thumb wurde aus weichem, weißem Leder nach meinem Entwurf in der Lederwerkstatt Leathers gefertigt. Der Däumling wurde mit kleinen und große Nieten besetzt, um das Drücken kleiner Handytasten zu erschweren. Ich entschied mich, beide Daumen mit einem Daumenschuh zu versehen, denn nach meiner Beobachtung benutzen manche Menschen beide Daumen zum Navigieren der Tasten. Anderen wird die Möglichkeit genommen, auf den anderen Daumen auszuweichen.
Die Daumenschuhe sind am Handballen mit Schnallen verstellbar und über eine Schlaufe miteinander verbunden, um sich verschiedenen Konfektions­größen anzupassen.

"Virgin Thumb", Daumenschuh aus Leder mit Nieten und Schnallen, © Ivy Kunze

"Virgin Thumb" in Anwendung, © Ivy Kunze, Digitaldruck, 51 x 34cm

"Virgin Thumb" in Anwendung, © Ivy Kunze, Digitaldruck, 51 x 34cm


[1] Meckel, M. (2007)
[2] Zwangsstörung: Obsessive Compulsive Disorder, Vgl. Interview mit McEwen, B. In: Wirtschaftswoche, 3.4.2007
[3] Braun, K. (1995)
[4] Goltzsche, S. (2002)
[5] Haeberle, E. J. (1978)

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